Leben

Allergien: „Kein Alterslimit mehr für Desensibilisierung“

Interview: Anita Gross

Der Sommer steht vor der Tür und die Gräserpollen-Saison hat begonnen. Wie Heuschnupfen Schnee von gestern wird, weiß Allergologe Wolfram Hötzenecker, Präsident der medizinischen Fachgesellschaft ÖGAI, im SEIN-Interview. Und warum manche Allergien im Alter vergehen, aber andere, wie z.B. gegen Medikamente, neu auftreten können.

Allergologe Wolfram Hötzenecker, Präsident der medizinischen Fachgesellschaft ÖGAI
C_Felicitas Matern

Herr Präsident, wie ändert sich die Häufigkeit von Allergien im Laufe eines Lebens?

Die Inzidenz und Prävalenz von Allergien im Alter unterscheidet sich von Kindern und jungen Erwachsenen. Man weiß, dass grob geschätzt zirka 25 bis 30 Prozent aller Österreicherinnen und Österreicher an Allergien leiden. Das sind zumeist Allergien, die die oberen Atemwege betreffen wie Stauballergie, Heuschnupfen oder auch Asthma bronchiale. Das sind Allergien, die vorwiegend bei Kindern, Jugendlichen und jungen Erwachsenen vorkommen. Man ist aber auch im Alter vor der Neuentwicklung einer Allergie nicht gefeit, obwohl die Chance deutlich geringer ist. Aber es gibt durchaus auch 50, 60-Jährige, die ich immer wieder in meiner Ordination sehe, die erstmalig mit Heuschnupfenbeschwerden kommen.

Und mit 70, 80 Jahren?

Das ist eher unwahrscheinlich. Im Alter von 70 bis 80 Jahren treten andere Allergien in den Vordergrund: vorwiegend Medikamentenallergien oder Unverträglichkeiten, weil ältere Menschen mehr Medikamente einnehmen als jüngere.

Stimmt es, dass Allergien mit dem Alter verschwinden können?

Wir werden nicht mit einer Allergie geboren, sondern unser Immunsystem muss im Lauf des Lebens unterscheiden lernen zwischen einem gefährlichen Stoff, wie z.B. ein Virus, ein Bakterium oder ein Parasit und ungefährlichen Substanzen wie z.B. Essen, Birkenpollen, Gräserpollen aber auch Medikamente. Manchmal lernt das Immunsystem falsch und es entsteht eine Allergie, also eine Abwehrreaktion des Körpers gegen einen per se harmlosen Stoff. Und genau wie unser Immunsystem eine Allergie falsch lernen kann, kann das Immunsystem das auch wieder vergessen, wenn man z.B. über mehrere Jahre mit dem Allergen keinen Kontakt hat. Es ist so wie bei bestimmten viralen Erkrankungen, wo wir auch im Lauf des Lebens den Immunschutz verlieren, wenn man nicht die Erkrankung wieder durchmacht oder die Auffrischungsimpfung bekommt.

Aber wie ist das bei Pollen oder Hausstaubmilben, mit denen man immer wieder Kontakt hat, wird das Immunsystem mit der Zeit nicht auch schwächer?

Prinzipiell ist es schon so, dass unser Immunsystem im Alter etwas schwächer wird, alle Prozesse werden langsamer. Ein starker Heuschnupfen kann im Alter etwas milder, schwächer werden, weil das Immunsystem weniger aktiv ist. Unser Immunsystem kann die Allergie auch wieder verlernen, weil die aktivierenden und die dämpfenden Teile des Immunsystems irgendwann wieder zu einem Gleichklang finden.

Gibt es ein Alter, wo Sie sagen, jetzt braucht es keine Therapie oder Desensibilisierung mehr, weil z.B. ein Heuschnupfen nicht mehr in die Lunge geht?

Wenn man erst ab 40, 50 einen Heuschnupfen entwickelt, stellt der Etagenwechsel, der vor allem bei Kindern und Jugendlichen eine gewisse Rolle spielt, keine Gefahr mehr da. Die Allergie „ruscht“ nicht mehr runter und man kann kein allergisches Asthma mehr entwickeln. Bezüglich der Therapie ist es aber so, dass durchaus auch 65- oder 70-jährige Patienten, die sehr stark unter Heuschnupfen leiden, geimpft werden können, also aktiv desensibilisiert werden. Da war man früher deutlich strenger. Heute ist das ganz individuell mit dem Patienten zu besprechen und zu entscheiden.

Das heißt, hier ist der Leidensdruck ausschlaggebend?

Richtig, es gibt kein Alterslimit mehr. Die ältere Generation wird immer fitter, immer gesünder, und natürlich steigt die Lebensqualität, wenn man die Therapie auch im Alter durchführen kann.

Der Sommer steht vor Tür. Heuer hat die erste Pollensaison ungewöhnlich früh und heftig begonnen. Gilt das auch für die Gräserpollen-Saison?

Ja, das hängt auch mit dem veränderten Klima zusammen. Durch die kürzeren Winter beginnen vor allem die Frühblüher, also Erle und Hasel, teilweise schon Ende Dezember oder Anfang Jänner zu blühen. Zudem sind die Baumpollen, z.B. Birke, aber auch Gräser einem gewissen Stress ausgesetzt. Die Pflanzen reagieren, indem sie mehr Pollen ausschütten, um sozusagen das Überleben zu sichern. Dies führt dazu, dass die Beschwerden eher stärker als schwächer werden. Bei der Birke erwarten wir dieses Jahr ein eher schwächeres Jahr dafür wird es bei den Gräsern ein eher stärkeres Jahr.

Ein neues Phänomen ist das sogenannte Gewitterasthma. Was ist das genau und ist das auch bei uns ein Thema?

Erstbeschrieben wurde das Gewitterasthma in Australien, wo durch sehr starke, plötzlich eintretende Gewitter Pollen und auch Staubpartikel, die am Boden lagern, in die Luft gewirbelt werden. Dadurch werden plötzlich Unmengen von Pollen als auch feine Staubpartikel und Schmutz in die Lunge eingeatmet und dies kann bei Allergikern zu einem asthmatischen Anfall führen. Da hilft nur, seine Notfallmedikamente, den Asthmaspray etc. einzunehmen bzw. solche Gewitter zu meiden.

Das heißt, bei aufziehenden Gewittern rasch hinein?

Genau. Meistens sieht man ein Sommergewitter schon am Horizont aufziehen und man sollte schnell die Innenräume aufsuchen.

Was sind jetzt die wichtigsten Therapieoptionen speziell bei Gräserpollen-Allergien?

Die therapeutischen Möglichkeiten beruhen auf drei Säulen. Das ist einerseits die Vermeidung des Allergens, was natürlich bei Gräserpollen-Allergikern nicht so einfach ist, im Vergleich z.B. mit einer Katzen- oder Hundehaar-Allergie. Aber man kann trotzdem beim Pollenwarndienst schon ein, zwei Tage vorher erfahren, wie die Pollenbelastung in der Region sein wird. Bei starker Pollenbelastung sollte der Tag vielleicht doch zu Hause geplant werden, auch wenn das Wetter noch so schön ist. Man kann natürlich Sonnenbrillen draußen tragen, die ein bisschen die Augen vor dem Pollenflug schützen. Sehr bewährt hat sich auch die FFP2-Maske, weil diese pollendicht ist.

Die medizinischen OP-Masken sind zu wenig?

Die sind zu wenig, man muss schon FFP2-Masken tragen. Daneben hilft auch das Gesicht zu waschen und eventuell die Nase mit Meersalz-Sprays zu reinigen, um die Pollen nach einem Spaziergang zu entfernen. Die zweite Säule ist die symptomatische Therapie mit Anti-Allergietropfen, -tabletten und -sprays. Die dritte Säule stellt die Desensibilisierung dar, die sozusagen das Übel an der Wurzel packt. Inzwischen gibt es auch Tabletten, Tropfen, Sprays oder eben die Spritze, wo man versucht, durch die Injektion von Gräserpollen das Immunsystem langsam wieder an die Pollen zu gewöhnen.

Gibt es auch etwas Neues in der Behandlung?

Es wird intensiv geforscht. Die vorher genannten Therapien stellen nach wie vor den Standard dar. Es gibt Forschungen zu Substanzen, die das Immunsystem regulieren. Sie funktionieren in Tiermodellen schon relativ gut, aber vom Versuchstier bis zum Patienten ist es doch noch ein langer Weg. Ich bin aber optimistisch, dass in den nächsten fünf bis zehn Jahren eine Tablette auf den Markt kommen wird, die das Immunsystem so moduliert, dass die Allergiesymptome unterdrückt werden.

Bei welchen Warnzeichen sollte man unbedingt ärztliche Hilfe in Anspruch nehmen?

Wenn jetzt in der Pollenflugsaison die Gräser blühen und ich habe eine Woche leichte Augenbeschwerden und die Nase rinnt, dann ist noch keine Gefahr im Verzug. Wenn die Belastung sehr stark ist, länger als eine Woche dauert, auch über die Jahre zunimmt und eine gewisse Leistungsabschwächung z.B. beim Sporteln vorliegt – man fühlt sich nicht mehr so fit oder hat Husten und einen Druck auf der Brust –, dann sollte man umgehend einen Arzt oder eine Ärztin aufsuchen. In der Folge werden ein Allergietest, ein sogenannter Hautpricktest, und eine Blutanalyse durchgeführt. Heutzutage kann man im Blut schon genau sehen, ob eine etwaige Impfung, eine Desensibilisierung, funktionieren würde oder nicht.

Was liegt Ihnen abschließend für unsere Leserinnen und Leser besonders am Herzen?

Die meisten älteren Patientinnen und Patienten, die ich mit Allergien sehe, haben Allergien auf Arzneimittel, die sie einnehmen müssen. Man muss genau unterscheiden: Ist es eine Nebenwirkung, z.B. trockene Haut, Muskelschmerzen, Müdigkeit, Kopfweh oder ist es wirklich eine Allergie? Bei einer Nebenwirkung kann man das Präparat wechseln. Bei einer Allergie, die gefährlich ist, muss man das Medikament lebenslang meiden. Wichtig ist, beides zu bedenken – es muss nicht immer eine Nebenwirkung sein, aber auch nicht immer eine Allergie.

Zur Person

Univ.-Prof. DDr. Wolfram Hötzenecker ist Vorstand der Univ.-Klinik für Dermatologie und Venerologie, stv. Dekan für Forschung, Medizinische Fakultät, Johannes Kepler Universität (KUK) in Linz und seit 2023 Präsident der Österreichischen Gesellschaft für Allergologie und Immunologie (ÖGAI).

Weiterführende Informationen

Die ÖGAI-Patienteninfo stellt Gesundheitsratgeber rund um Allergien & Intoleranzen zum Downloaden zur Verfügung und kooperiert außerdem mit der Interessengemeinschaft für Allergenvermeidung – IGAV, dem Österreichischen Pollenwarndienst sowie mit MeinAllergiePortal. Seit 2022 werden auch virtuelle Sprechstunden angeboten.