Leben

Erzähl mir was!

Von der Kraft des Erinnerns und Erzählens

Text: Gabriele Kuhn

Wer sich seiner Lebensgeschichte bewusst wird und sie mit anderen teilt, hebt einen Schatz – für sich selbst, aber auch für andere Menschen. Erinnerungen schenken Kraft, schaffen Identität und ermutigen. Im besten Fall können wir sagen: So wie es war, war es gut.

Alte Frau und Kind
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Und am Ende der Bescherung fischte die 25-Jährige ein Packerl unter dem Christbaum hervor. „Das ist für dich, Omi. Ich bin schon neugierig, was du sagst“, lächelte die junge Frau und überreichte es ihrer Großmutter. Die war gespannt. Was hatte sich ihre Enkelin da wohl ausgedacht? Behutsam löste sie das dunkel­rote Band – und wickelte den Inhalt aus: ein Ausfüllbuch mit dem Titel „Oma, erzähl, mal!“ Und eine Karte mit folgendem Text:
Liebe Omi, 
ich würde mich freuen, wenn Du die Fragen in diesem Buch beantwortest. Es sind Fragen zu Deinem Leben, Deiner Vergangenheit. Weil ich mich für Dich interessiere – für das, was war, was Dich glücklich, aber auch traurig gemacht hat. Was Dich prägte, berührte, inspirierte und Dir wichtig war. Weil Deine Geschichte auch meine ist. Danke.

 

Reise ins Gestern

Die 74-Jährige war überrascht. Nie hätte sie gedacht, dass sich ein junger Mensch für ihre Lebensreise interessieren würde. Doch jetzt? Jetzt würde sie wohl beginnen müssen, in ihren Erinnerungen zu kramen. An ihr erstes Spielzeug denken. Ihre erste Liebe. Oder das erste Rendezvous mit ihrem Ehemann. Sie würde vielleicht sinnieren, was sie in ihrem Leben anders gemacht hätte. Was war gut? Was schlecht? Eine Reise ins Gestern – mit Lehren und Erkenntnissen für heute. Die alte Dame fand die Idee sehr schön – und machte sich wenige Tage später ans Werk.
Nicht immer sind junge Menschen für die Erinnerungen ihrer Vorfahren so offen wie diese 25-Jährige. Manche interessieren sich nicht für den „alten Kram“. Was viele (noch) nicht ahnen: Sich für die Erzählungen und Erinnerungen der Älteren zu öffnen, kann bereichern. Wir erfahren dabei viel über uns selbst, denn manche Geschichten leben in und durch uns weiter, obwohl wir uns dessen kaum ­bewusst sind. Wer hinhört und hinsieht, begreift sich selbst – und die Welt, wie sie einst war. Das gilt aber nicht nur für jene, die sich für die Erinnerungen ihrer Eltern oder Großeltern interessieren, sondern auch für die Erzählenden selbst. Die Kraft des Lebensrückblicks.
Aus einem Lebensrückblick können Menschen sehr viel Kraft schöpfen: Weil ihnen bewusst wird, wie vieles sie gemeistert und bewältigt haben. Im Blick zurück liegt Potenzial für die Zukunft – vorausgesetzt, man schwelgt nicht ausschließlich in der Vergangenheit oder bedauert nur, was geschehen ist. Stattdessen geht es darum, das Gewesene zu würdigen, wie die Schweizer Psychoanalytikerin Verena Kast in ihrem Buch „Was wirklich zählt, ist das gelebte Leben: Die Kraft des Lebensrückblicks“, schreibt. Es bedeutet, sich des gesamten Lebens zu entsinnen – mit allem Scheitern und Gelingen.
Auf den Spuren unseres Lebens „Biografiearbeit ist nüchtern und respektvoll: Es geht nicht um das Glorifizieren der Vergangenheit oder das Starren auf eigene Fehler, nicht darum, sich als großartiges Opfer der Umstände zu verstehen, wohl aber darum, das Schwere zu sehen und es durchaus auch zu beklagen. Keineswegs aber, um in der Klage stecken zu bleiben, sondern um das Schwierige dann auch hinter sich zu lassen und wahrzunehmen, was dennoch im eigenen Leben möglich war“, so Kast. Biografiearbeit hat viele Gesichter: Ein „Erzählbuch“, wie eingangs beschrieben, kann ein wunderbarer Anstoß sein, das eigene Leben zu reflektieren und als Gesamtbild zu betrachten. Lebensrückblicke finden aber auch in Gruppen statt, wie etwa in Erzählcafés (siehe Seite 13). Oft im ­Dialog mit Enkelinnen und Enkeln, manchmal setzt man sich allein hin, um mithilfe von Fotos, Erinnerungsstücken, alten Briefen oder einer vorhandenen Familienchronik die Bausteine seines Seins zu einem Ganzen zusammenzufügen. Viele Menschen schreiben, andere beschreiben und malen, der nächste taucht mithilfe von Tanz oder Musik in sein gelebtes Leben ein. „Was Biografiearbeit nicht ist – Therapie“, betont Renate Brüser vom Ins­titut für Biografiearbeit. Es geht darum, Menschen zu ermutigen, sich zu erinnern. „Außerdem kann sie einfach nur Spaß machen. Indem ich mich zum Beispiel entsinne, wie das Badezimmer seinerzeit ausgesehen hat. Oder wie ich mich angezogen und gefühlt habe, als ich fein ausging“, so Brüser. Therapeutische Wirkung kann das alles trotzdem haben und sogar stimmungsaufhellend sein, weiß Verena Kast: „Verschiedene Studien zeigen, dass Menschen, die sich mit ihren autobiografischen Erinnerungen beschäftigen, weniger depressiv und geistig beweglicher sind als die entsprechenden Kontrollgruppen. Das trifft allerdings nicht zu, wenn in der Biografiearbeit nur die Vergangenheit glorifiziert oder global Schuld anderen Menschen oder der Zeitgeschichte, an der man Anteil hat, zugewiesen wird“, schreibt sie.

Ereignisse neu bewerten

Manchmal braucht es auch Mut, zurückzublicken. Wenn sich ein Mensch seinem Versagen stellen muss oder falschen Entscheidungen von einst. Wenn es darum geht, Dinge einzusehen, die sich heute anders darstellen. „Bei der Biografiearbeit wird das Erlebte vom aktuellen Standpunkt aus betrachtet. So kommt es, dass bestimmte Ereignisse neu bewertet müssen“, sagt Renate Brüser. Zum Beispiel, wie man in den 1950er- oder 1960er-Jahren mit Babys umgegangen ist. Man ließ sie schreien, stillte sie nur alle vier Stunden. Aus heutiger Sicht ist klar, dass man das nicht mehr so machen würde. Deshalb ist es wichtig, bei allen Überlegungen auch die Zeitgeschichte und den Zeitgeist einzubeziehen. Beides hat einen Einfluss auf die eigene Biografie. „Ich muss mich immer fragen, wie die Umstände waren, die auf mich eingewirkt haben. Das hilft, um sich aussöhnen zu können, mit dem, was war. Jeder Mensch ist auch ein Kind seiner Zeit, dem entkommt keiner“, sagt Renate Brüser.

Im Erinnern lächeln

Zu verstehen, wie man zu jenem Menschen wurde, der man jetzt ist, wirkt heilend. Am Ende wird klar: So wie es war, war es gut. Dann wird der Lebensrückblick zur wertvollen Ressource, ist Renate Brüser überzeugt: „Weil er Sicherheit schenkt – und Identität. Biografiearbeit ist Wurzelarbeit. Gerade in unserer pluralistischen Gesellschaft, die immer vielfältiger wird und sich so schnell wandelt, ist das bedeutend.“ Ein Lebensrückblick sollte allerdings freiwillig sein, es gibt Dinge, über die ein Mensch nicht sprechen mag. Und es existiert auch keine „biografische Wahrheit“, alles Erzählte ist ein subjektiver Rückblick, der eigenen Wahrnehmungen folgt. 
Das wurde auch eingangs erwähnter Dame irgendwann bewusst, die ein Jahr gebraucht hat, um das Geschenkbuch ihrer Enkelin auszufüllen. Dabei führte so manche Frage zu neuen Fragen, die gar nicht im Buch zu finden waren. Zweifel kamen hoch, weil sie sich an vieles nicht mehr genau erinnern konnte – doch immerhin: Ein Gefühl dazu war da. Mit der Zeit fügte sich alles zusammen, mehr und mehr begann sie den Geschichten ihres Lebens zu lauschen. Und zu verstehen. Das Bild vervollständigte sich – genauso würde sie es in seiner (subjektiv gefärbten) Ganzheit an ihre Enkelin weitergeben können. Im Erinnern konnte sie lächeln, lachen, sich wundern und freuen. Manchmal flossen Tränen des Bedauerns und der Trauer. Gleichzeitig fühlte sie Zufriedenheit, der Rückblick machte sie „ganz“. Kein Wunder, dass Verena Kast Menschen ermutigt, irgendwann Bilanz zu ziehen: „Erzählen wir einander eine Geschichte aus unserem Leben, dann wird nicht nur die Vergangenheit lebendig, wir selbst werden dabei lebendig.“ Dafür ist es nie zu früh – und nie zu spät.

Fragen als Kraftquelle

Es gibt Hunderte Fragen, die sich ein Mensch im Rahmen eines Lebensrückblicks stellen kann – vom Lieblingsessen über Momente in der Kindheit bis hin zur ersten Liebe oder Erinnerungen an die eigenen Eltern. Wer Biografiearbeit als Ressource nützen möchte, sollte sich besondere Fragen stellen und anderen davon erzählen. Zehn Beispiele:

  • Mit welchen Herausforderungen hatte ich in meinem Leben zu kämpfen? Wie habe ich sie gemeistert?
  • Was hat mir dabei geholfen – und wer?
  • Wie habe ich Niederlagen im Laufe des Lebens verarbeitet?
  • Welche Fähigkeiten habe ich entwickelt – und welche davon helfen mir heute noch? 
  • Wie sieht der Schatz meines Lebens aus?
  • In welche Zeit meines ­Lebens würde ich noch einmal ­zurückgehen wollen – und warum?
  • Welche waren die schönsten Momente in meinem Leben?
  • Trauere ich verpassten Lebenschancen nach –, wenn ja: welchen?
  • Welchen Menschen möchte ich danken, die mich und mein Leben besonders beeinflusst haben?
  • Welchen Rat möchte ich anderen mit auf den Lebensweg geben?