Gesprächsstoff

Haben wir in Österreich eine Zwei-Klassen-Medizin?

Warum das österreichische Gesundheitssystem Anreize für eine Zwei-Klassen-Medizin schafft, wo Geld oder eine Zusatzversicherung tatsächlich Vorteile bringen und was man abseits davon tun kann, um gut versorgt zu sein, erklärt der Gesundheitsökonom Thomas Czypionka im Gespräch mit dem SEIN-Magazin. 

Interview: Susanne Sametinger

Haben wir in Österreich eine Zwei-Klassen-Medizin?
Leider mussten wir in zahlreichen Untersuchungen feststellen, dass man sich durch eine private Zusatzkrankenversicherung Vorteile verschaffen kann –, damit werben ja auch die Versicherungen! Das ist in Ordnung, wenn es um die Hotelkomponente im Krankenhaus oder die Bezahlung von Wahlarztkosten geht. Nicht okay ist es zum Beispiel bei Wartezeiten auf geplante Operationen: Es ist in Österreich gesetzlich geregelt, dass die Behandlung ungeachtet der Person und ihres sozialen Status erfolgen muss. 

Sie haben in mehreren Untersuchungen – zuletzt 2020 – festgestellt, dass sich die Wartezeit auf geplante Operationen mit Zuzahlungen beeinflussen lässt ...
Das passiert teilweise ganz offiziell – durch den Besuch einer Privatordination, nach dem der Primararzt, die Primarärztin diese Patienten dann vorreiht. Der Geldfluss ist legal, nicht aber die Vorreihung. Bei rund fünf Prozent der Befragten ging es wirklich um eine Zahlung im Kuvert! Insgesamt haben zehn Prozent der Befragten, das waren Personen, die nach einer elektiven Operation in einer Rehabilitation waren – angegeben, dass ihnen eine Verkürzung der Wartezeit durch eine private Zuzahlung oder den Besuch einer Privatordination angeboten wurde. 

Warum haben Spitalsärzte ein Interesse an der Sonderklasse?
Die Grundgehälter für in öffentlichen Spitälern angestellte Ärzte sind im internationalen Vergleich niedrig. Dazu kommt ein in manchen Fächern beträchtlicher Anteil des Einkommens aus den Zusatzversicherungen. Das bewirkt natürlich, dass man sich um die zusatzversicherten Patienten besonders bemüht – das ist keine Kritik an den Ärzten, das System funktioniert in Österreich so und ist historisch begründet. So haben sich auch gewisse Muster entwickelt: Primarärzte, die nur die Sonderklasse-Patienten ­visitieren, sind immer noch Usus. Rechtens ist es in öffentlichen Spitälern nicht, denn die Ärztegehälter werden von der öffentlichen Hand bezahlt. 

Auch in den Kassen-Ordinationen wartet man teilweise sehr lange. Wer es sich leisten kann, geht zum Wahlarzt. Was läuft hier falsch?
Den Stellenplan macht die ÖGK gemeinsam mit der Ärztekammer. Das Problem ist: Die Ärzte haben kein Interesse an mehr Kassenstellen, denn so würden sie sich ja Konkurrenz schaffen. Für das System ist das sehr ungünstig!

Wer zahlt, kommt dran: Ganz offensichtlich wird das, wenn es um MRT-Termine geht: Kassenpatient*innen warten in Wien derzeit bis zu zwei Monate. Wer privat bezahlt, erhält im selben Institut oft schon am nächsten Tag einen Termin. Ist das in Ordnung?
Grundsätzlich ist es moralisch nicht verwerflich, wenn es privat die Möglichkeit gibt, ein MRT zu machen. Das Problem ist, dass die ÖGK nach Erbringung eines gewissen Volumens weniger bezahlt. Die Kasse argumentiert, dass diese Deckelung gerechtfertigt ist, sobald sich das Gerät amortisiert hat. Die Ärzte sagen: Wenn ich weniger bezahlt bekomme, biete ich das als Kassenleistung einfach nicht an. Beschränkte Kapazitäten sind nicht das Problem, sondern die Tatsache, dass die Ärzte den Vertrag nicht vollständig erfüllen, weil sich ihr Gerät schon amortisiert hat. 

Was kann man selbst tun, um gut medizinisch versorgt zu sein? 
Sich möglichst gut informieren, dann wird man vom Gesundheitspersonal ernst genommen. 

Anders gesagt: Je weniger Bildung, desto schlechter die gesundheitliche Versorgung. Was muss passieren, damit sich das ändert?
Hier ist die Politik gefragt: Es geht darum, die Gesundheitskompetenz aller Menschen zu heben – unabhängig von Bildungsgrad und sozialem Status. Da ist viel Kommunikation auf Augenhöhe notwendig: Einfache Botschaften auf allen Kanälen, um möglichst viele Menschen zu erreichen! 

Was würden Sie tun, wenn Sie mit einer schweren Erkrankung konfrontiert wären?
Ich würde sehr bald eine Selbsthilfegruppe kontaktieren: Dort kennt man die Probleme aus eigener Erfahrung, kann die richtigen Ansprechpartner vermitteln und weiß auch, wohin man sich mit Problemen abseits der Medizin wenden kann. Deshalb gehört die Selbsthilfe in Österreich gestärkt. In vielen Ländern erhalten Selbsthilfeorganisationen ein Budget von der öffentlichen Hand –, so sind sie nicht nur von einer Finanzierung durch die Pharmaindustrie abhängig und haben dann auch gewisse Rechte und Pflichten.

Zur Person

Dr. Thomas Czypionka
Der Mediziner und Ökonom leitet die Forschungsgruppe Gesundheits­ökonomie und -politik am Institut für Höhere Studien (IHS) und ist Autor zahlreicher Publikationen zu den Themen Gesundheitsökonomie, Gesundheitspolitik, Finanzierung und Effizienz von Gesundheitssystemen. Thomas Czypionka kennt das Gesundheitssystem als medizinischer und ökonomischer Perspektive, hat Regierungen bei Gesundheitsreformen beraten und beschäftigt sich seit vielen Jahren mit der Gesundheitsversorgung in Österreich.

Thomas Czypionka, Gesundheitsökonom
Copyright: Carl Anders Nillson