Leben

So bleiben Sie im Gleichgewicht

Heute schon probiert, auf einem Bein zu stehen? Achtsam, beweglich, in der Mitte bleiben: Ein guter Gleichgewichtssinn beugt Stürzen vor und steigert die Lebensqualität. Ihn zu trainieren, kann ganz schön viel Spaß machen.

Text: Gabriele Kuhn

"Jö, ich kann’s wieder“, freut sich die 79-jährige Margret und spaziert forschen Schrittes ins Schlafzimmer, wo sie im Stehen in eine Hose schlüpft. Elegant, beinahe mühelos. ­Margret lächelt. Das war nicht immer so. Wie so viele Menschen wurde auch sie mit den Jahren zunehmend „wackeliger“ und bekam Probleme mit dem Gleichgewicht. Ein kleiner Drehschwindel dort, das Gefühl von Kraftlosigkeit da –, Margret wurde zunehmend unsicher. Bis sie von einer Bekannten erfuhr, dass diese mithilfe von Tangotherapie wieder in Balance kam. Sie lernte, mit gezielten Elementen aus dem argentinischen Tanz im Gleichgewicht zu bleiben und ihre Bewegungen besser zu koordinieren (siehe Interview, Seite 51). Margret tat es ihr nach – und war begeistert. Weil es ihr zunehmend besser ging, nicht nur mit dem Gleichgewichtssinn. Sie fühlte sich allgemein beweglicher und zufriedener, die Musik berührte sie. Dass sie sich jetzt wieder eine Hose anziehen kann, ohne dabei sitzen zu müssen, macht sie stolz und froh. Eine Form der Selbstermächtigung, um am Leben teilnehmen zu können und mehr Freude zu empfinden. 

Rechtzeitig aktiv werden

Stabil stehen, sicher gehen, im Urlaub die Stufen zu einer Burg nehmen, auf schmalen Wegen wandern, sich wohl auf den eigenen Beinen fühlen – ein Leben lang: Möge die Übung gelingen! Am besten, man fängt rechtzeitig damit an. „Je mehr bereits an Kraft, Mobilität, Koordination und Stabilität verloren gegangen ist, desto schwieriger wird es, gewisse Fähigkeiten wiederzuerlangen“, betont Univ.-Prof. Marcus Köller, Leiter der Abteilung Akutgeriatrie und Remobilisation, Klinik Favoriten. Wie so oft gilt: Vorbeugen ist besser. Use it or lose it. „Das ist für ältere Menschen hinsichtlich der steigenden Sturzgefahr von großer Bedeutung“, so Köller. Bei den über 65-Jährigen sind es 30 Prozent der Menschen, die ein Mal pro Jahr stürzen, bei 75-Jährigen bereits 40 Prozent, ab 85 sind es mehr als die Hälfte. „Sich das bewusst zu machen, kann motivieren, rechtzeitig aktiv zu werden. Auch wenn es zum Glück so ist, dass nur zehn Prozent dieser Stürze zu Verletzungen führen, die eine ärztliche Behandlung benötigen“, so Köller. 
Die Wirkung des Tanzes auf die körperliche und seelische Balance wird in vielen Studien untermauert. Vor Kurzem ergab eine Untersuchung der Fachhochschule St. Pölten im Auftrag der niederösterreichischen Initiative „Tanzen ab der Lebensmitte“, dass Senior*innentanz das Gleichgewicht verbessert und soziale Kontakte fördert. Das Ergebnis: Menschen, die regelmäßig das Bein schwingen, hatten sogar ein besseres Gleichgewicht als jene, die regelmäßig Sport machen. Am besten ist beides zusammen. Laut Karl Hömstreit vom Landesverband Seniorentanz Niederösterreich, erhält wöchentliches Tanzen die Bewegungskompetenz älterer Menschen, wodurch Stürze und daraus resultierende Verletzungen vermieden werden. 

Tja, es beginnt schon mit 50 ...

„Die Sturzhäufigkeit hat etwas mit dem Phänomen der Altersgebrechlichkeit zu tun, das sogenannte ,Frailty Syndrom‘, dem wir uns alle eines Tages stellen müssen. Die Menschen gehen langsamer, sind weniger belastbar und werden zunehmend unsicher“, sagt Experte Köller. Der altersbedingte Verlust von Muskelmasse beginnt bereits mit dem 50. Lebensjahr. Dabei verliert der Mensch an Kraft, Ausdauer, Beweglichkeit und in der Folge an Koordinationsfähigkeit und Gleichgewicht. Das eine bedingt das andere. Köller: „Dazu kommen mögliche Begleiterkrankungen oder Nebenwirkungen von Medikamenten. Auch die Tiefensensibilität nimmt mit den Jahren ab, die Reflexe werden schwächer. Es ist ein Zusammenspiel mehrerer Faktoren.“ Je weniger sich jemand bewegt, desto steifer, unsicherer und schwächer wird er – ein Teufelskreis, der in noch mehr Bewegungsarmut, Unsicherheit und Isolation münden kann. Wer sicher steht und geht, kann ein weitgehend selbstständiges Leben führen.
Die gute Nachricht: Nicht nur tanzen, sondern viele Formen des Muskeltrainings und der Bewegung haben eine Verbesserung der Balance zur Folge. Dabei spielt vor allem eine gute Beinmuskulatur eine tragende Rolle, aber auch die Tiefenmuskulatur des Rückens und des Rumpfs. Manche Übungen und Methoden eignen sich ganz besonders gut für die Sturzprophylaxe, sie werden in speziellen Kursen angeboten (siehe Service-Kasten rechts). Die so wichtige Kraft der Mitte wird zum Beispiel mithilfe von Pilates trainiert, ein systematisches Ganzkörpertraining zur Kräftigung der Muskulatur, vor allem von Beckenboden, Bauch und Rumpf. Gleichzeitig fördert es die Körperwahrnehmung (mehr dazu ab Seite 54). 
Apropos, guter Punkt: Wer in China durch Parks geht, sieht, wie zahlreiche, durchaus auch ältere Menschen Tai-Chi üben, eine „sanfte“ Form asiatischer Kampfkunst. Viele verschiedene Studien untermauern die Wirkung auf Muskelkraft und Gleichgewichtssinn. Hier sind es die langsamen, bewussten Bewegungen, die Muskeln und Gelenke flexibel halten. Konzentration und Achtsamkeit fördern sanft die Körperhaltung. 

Der Test: Auf einem Bein stehen

Doch auch der normale Alltag in den eigenen vier Wänden bietet viele gute Gelegenheiten, die Balance zu schulen. Einfache Gleichgewichtsübungen (siehe Seite 49) helfen, die Muskulatur zu stärken, um gleichzeitig die Motorik und die Koordination zu verbessern. Das lässt sich täglich trainieren – und wenn’s nur der einfache Ein-Bein-Stand ist, der – genau betrachtet – gar nicht so „simpel“ ist. Er gilt als wichtiger Indikator, wie fit ein Mensch in Sachen Balance ist. Dafür wird ein Bein angehoben, während die Arme in Schulterhöhe nach vorne gestreckt werden. Die Position zehn Sekunden lang halten. Wenn das gut funktioniert, wunderbar! Falls nicht, ist es höchste Zeit, etwas zu tun.

Gleichgewicht trainieren: fünf einfache Übungen für daheim

Der Zehenspitzenstand:

Aufrecht neben dem Sessel hinstellen. Beide Fersen anheben, sodass Sie auf den Zehenspitzen zu stehen kommen. So lange wie möglich halten, am besten bis zehn zählen. Nun die Fersen wieder absenken. Ein paar Mal wiederholen. Variante: Wippen, also Fersen schnell auf- und absenken, auch zu Musik.

Das Pendel:

Schnappen Sie sich einen Sessel – zur Sicherheit. Nun auf einem Bein stehen, Arme seitlich ausstrecken. Das andere Bein heben und den Unterschenkel von links nach rechts schwingen, die Hüfte dreht sich dabei mit. Arme wahlweise mitschwingen. Nach zehn Wiederholungen auf das andere Bein wechseln.

In der Luft zeichnen:

Auf einem Bein stehen, Sessel in der Nähe! Hände auf die Hüften oder seitlich ausstrecken. Nun mit dem Fuß des anderen Beins Kreise, Striche und beliebige Bilder in die Luft zeichnen. Bis zehn zählen, dann wechseln. Mutige probieren die Übung mit geschlossenen Augen.

Hampelmann:

Stellen Sie sich mit breiten Beinen hin, strecken Sie die Arme nach oben und führen Sie die Hände über Kopf zusammen. Wenn Sie nicht mehr hüpfen können, das macht nix: Der Gleichgewichtssinn wird auch „ohne“ trainiert.

Balanceakt:

Ein großes Handtuch zu einer Rolle formen, auf den Boden legen. Nun barfuß darauf balancieren. Wenn Sie das oft üben, werden Sie es eines Tages schaffen, den ganzen Weg wieder rückwärts zu balancieren. Vielleicht sogar mit geschlossenen Augen.