Gesprächsstoff

Gesundheitssystem:

Alles paletti?

Seit Herbst schrillen die Alarmglocken: Volle Spitäler, überlastete Ärzte, fehlendes Personal, lange Wartezeiten. Bekommen in Österreich noch alle Menschen die medizinische Betreuung, die sie brauchen? Muss sich die ältere Generation Sorgen machen? SEIN macht die Bestandsaufnahme. 

Text: Susanne Sametinger

Lange Wartezeiten in den Ordinationen. Pflegepersonal, das auf die Straße geht, um auf die prekäre Personalsituation aufmerksam zu machen. Der Wiener Patientenanwalt, der von einem „Notstand“ spricht. Eine Umfrage unter den Wiener Spitalsärzt*innen, wonach acht von zehn Befragten einen nachhaltigen Qualitätsverlust in der medizinischen Betreuung feststellen, mehr als drei Viertel große Versorgungsengpässe sehen und zwei Drittel regelmäßig daran denken, ihren Job im Spital zu kündigen. Sind wir in Österreich nicht mehr gut versorgt?

Ein Arzt betrachtet eine Röntgenaufnahme
megaflopp iStock Getty Images Plus

Mehr Flexibilität gefragt

Mitte Dezember wies Harald Mayer, Obmann der Spitalsärzte der Ärztekammer, auf akute Probleme in den Spitälern in allen Bundesländern hin: Zu wenige Fachärzt*innen, lange Wartezeiten auf bestimmte Operationen, Abteilungen, die temporär geschlossen werden müssen. So warteten im Landeskrankenhaus Hochsteiermark in Leoben rund 500 Patienten auf eine urologische Operation. Michaela Wlattnig, steirische Patientenanwältin und Sprecherin der ARGE Patientenanwälte Österreich, kennt das Problem, führt es aber nicht auf zu wenige Fachärzte, sondern auf fehlende Pflegekräfte zurück. Als wegweisend bezeichnet sie das Konzept, mit dem man auf diese Situation reagierte: Seit Anfang Dezember werden auch am Standort Deutschlandsberg in Kooperation mit der Universitätsklinik für Urologie in Graz sowie am Standort Rottenmann in Kooperation mit der Abteilung für Urologie am LKH Hochsteiermark geplante urologische Eingriffe durchgeführt. Für Wlattnig ist dieser neue Weg beispielgebend: „Daraus kann man für den gesamten Bereich der stationären Versorgung ableiten, dass es in Zukunft flexiblere Lösungen geben muss im Sinne von: Wo sind Kapazitäten frei und wie können wir diese auch bundesländerübergreifend nutzen.“

Warten auf Operationen

Dass Konzepte wie dieses eine Ausnahme sind, macht ein Vergleich der Wartezeiten auf planbare Operationen deutlich: Laut Websites der Spitalsträger wartet man auf eine Operation des Grauen Stars in Waidhofen an der Ybbs drei Wochen – in Bruck an der Mur sind es 27 Wochen und im Krankenhaus Feldkirch je nach Dringlichkeit zwischen sieben und 64 Wochen. Auf eine Hüft-Endoprothese warten Patient*innen zwischen sechs Wochen im Krankenhaus Hainburg und 70 Wochen im LKH Stolz­alpe. Diese Angaben können allerdings nur bedingt ernst genommen werden, denn obwohl laut Gesetz schon seit 2011 mehr Transparenz bei Wartezeiten auf planbare Operationen gefordert ist, gibt es immer noch keine übersichtliche, vollständige und vor allem aktuelle Darstellung. 
Dass Zusatzversicherte schneller zu Terminen für planbare Operationen kommen und dass der Umweg über die Privatordination oder eine private Zuzahlung die Wartezeit maßgeblich verkürzen kann, hat der Gesundheitsökonom Thomas Czypionka vom Institut für Höhere Studien mehrmals in Untersuchungen nachgewiesen. Patientenanwältin Wlattnig stellt dazu fest: „Ich kenne diese Gerüchte – das wäre ein strafrechtlicher Tatbestand. Ich habe dazu aber keine einzige Beschwerde.“

Wenn es akut ist, kommt man dran

Spitalsärzte, die dazu vom SEIN-Magazin befragt wurden, wollen von einer Bevorzugung von Zusatzversicherten bei planbaren Operationen nichts wissen. Sie betonten jedoch ausnahmslos, dass Akutpatienten ihre Therapien oder Operationen sehr rasch bekommen würden – unabhängig davon, ob sie zusatzkrankenversichert sind oder nicht. „Es gibt keine Bevorzugung für Zusatzkrankenversicherte in den öffentlichen Spitälern. Jeder Akutpatient, jede Akutpatientin in Österreich wird sofort und gleich behandelt“, sagt auch Spitalsärzte­obmann Harald Mayer.
Wie sieht das konkret bei einer Krebserkrankung aus, wo das Warten auf eine Therapie zur Zerreißprobe wird? „Für die Behandlung und die Zeiträume von der Diagnose bis zum Beginn einer Behandlung gibt es Richtlinien“, erklärt Patientenanwältin Wlattnig. „Wir haben keine Hinweise darauf, dass diese Richtlinien nicht eingehalten werden oder sich die Wartezeit verlängert hat. Aber so eine Diagnose ist eine psychische Belastung. Hier geht es deshalb auch darum, Sicherheit zu vermitteln.“ 
Auch Doris Kiefhaber von der Österreichischen Krebshilfe bestätigt: „Die onkologische Versorgung ist in Österreich flächendeckend sehr gut. Wir haben in jedem Bundesland Kompetenzzentren, zertifizierte onkologische Zentren und medizinisches Personal, das nach internationalen Leitlinien arbeitet.“

Warten in den Ambulanzen

Volle Ordinationen und Öffnungszeiten, die für Berufstätige oft schwierig einzuplanen sind, treiben viele Menschen in die Spitalsambulanzen, für die eigentlich die Primärversorgung zuständig wäre. Kommen dazu noch eine Grippewelle und eine Pandemie, können die Wartezeiten lang werden. 
Versorgungslücken im Bereich der Kassen-Ordinationen, die insbesondere auch ältere Menschen betreffen, sieht Patientenanwältin Michaela Wlattnig in sogenannten „Mangelfächern“: der Frauenheilkunde, der Urologie, in einigen Regionen auch in der Augenheilkunde sowie auch bei Zahnarztordinationen. Auch in der Allgemeinmedizin fehlt es an Kassenvertragsärzt*innen: Allein in Oberösterreich waren im Oktober 40 Kassenstellen für Allgemeinmedizin nicht besetzt, österreichweit waren es vergangenen Sommer 166.  
Die Anzahl der Ordinationen mit Kassenvertrag stagniert – gemessen an der steigenden Bevölkerungszahl ist sie in den letzten zehn Jahren sogar gesunken. Die Folge: Längere Wartezeiten auf Termine und weniger Zeit für die Patienten.

Primärversorgungszentren als Chance

Mehr Zeit – das ist für viele Wahlärzte ein Argument, warum sie sich gegen einen Kassenvertrag entscheiden. Dazu kommen mehr Flexibilität, keine Bereitschaftsdienste am Wochenende und die Möglichkeit, die Honorare selbst zu gestalten. 
Die Österreichische Gesundheitskasse (ÖGK), die gemeinsam mit der Ärztekammer für die Planung von Kassenplanstellen zuständig ist, sieht hier kein Problem: „Wir bieten attraktive Verträge und ein sehr gutes Einkommen. Der Kassenvertrag ermöglicht viel Flexibilität und berücksichtigt damit die Bedürfnisse der Ärztinnen und Ärzte in verschiedenen Lebensphasen“, sagt eine Sprecherin der ÖGK zum SEIN-Magazin. Dort, wo Stellen dennoch länger nicht besetzt werden können, schaffe man Alternativen, zum Beispiel Primärversorgungseinheiten (PVE). Diese sieht auch Thomas Czypionka als große Chance: „Mit den PVE haben wir die Möglichkeit, die jüngere Generation wieder für das System zu gewinnen und für die Patienten die Qualität zu bieten, die verloren gegangen ist. Pflegepersonal könnte einen Teil der Arbeit erledigen und würde damit eine Aufwertung des Berufs erfahren. Die Patienten kommen dann vielleicht 15 Minuten zum Arzt, aber dafür wesentlich seltener. Ein Arzt, der alles macht, ist nicht mehr zeitgemäß!“

Zu wenige Hausbesuche

Hausärzte, die rund um die Uhr für ihre Patienten da sind, sind definitiv ein Auslaufmodell. „Immer weniger Ärztinnen und Ärzte führen Hausbesuche durch. Das ist vor allem für ältere Menschen mit Bewegungseinschränkungen ein Problem“, sagt Michaela Wlattnig. Besonders hart treffe es die Menschen in den Alten- und Pflegeheimen: „Menschen mit Demenzerkrankungen müssen fachärztlich begleitet werden – in diesem Bereich Fachärztinnen, Fachärzte für Neurologie und für Psychiatrie zu finden, die Visiten vor Ort machen, ist sehr schwierig!“

Ordinationen: Warten oder zahlen

Wenn das Problem nicht akut ist, sind Wartezeiten von drei bis vier Monaten in Ordinationen mit Kassenvertrag mittlerweile in vielen Fachbereichen üblich. „Wir waren mit den Terminen Mitte Jänner bereits im Mai“, bestätigte auch Karin Dunst-Huemer, Dermatologin in Linz. Im Gegensatz zu manchen Kolleg*innen weist sie keine Neupatienten ab. „Ich verstehe das aber: Viele wollen oder können nicht so viel arbeiten, zum Beispiel, weil sie Kinder haben. Die Honorargestaltung motiviert auch nicht unbedingt dazu, noch mehr Menschen zu behandeln.“  
Schneller und bequemer ist ein Besuch in einer Wahlarztordination. Der Nachteil: Wahlärzte können ihre Honorare frei gestalten. Bei der Pflichtversicherung kann man die Rechnung zwar einreichen, erhält jedoch nur 80 Prozent des Kassenhonorars rückerstattet, das oft wesentlich niedriger ist. Das kann oder will sich nicht jede*r leisten.

Private Zusatzkrankenversicherung

Rund 38 Prozent der Bevölkerung haben einen private Zusatzkrankenversicherung und erhalten dafür je nach Vertrag Leistungen wie freie Arztwahl, die Rückerstattung von Kosten für Medikamente, die die gesetzlichen Krankenversicherungen nicht übernehmen, die Rückerstattung von Wahlarztkosten, bessere Zimmer und Verpflegung in der Sonderklasse im Spital oder in Privatkliniken. Die Höhe der Prämie wird – abgesehen vom Leistungsumfang – von zwei wesentlichen Faktoren beeinflusst: Dem Alter und dem Gesundheitszustand bei Abschluss der Versicherung. Je älter, desto teurer wird es also. Zudem steigt die Wahrscheinlichkeit, dass Versicherungsunternehmen den Antrag aufgrund der Krankengeschichte ablehnen, einen Risikozuschlag berechnen, Leistungen ausschließen oder eine Wartezeit vereinbaren, bis die Versicherungsleistung in Anspruch genommen werden kann. Die Altersgrenze für einen Vertragsabschluss liegt je nach Anbieter bei 60 bis 70 Jahren. 
Vom Geld, das Zusatzversicherte ins System bringen, – laut Ärztekammer sind das immerhin 13 Prozent der Gesundheitskosten – profitieren alle. Denn ein Teil der Zahlungen für Sonderklassepatienten fließt in die Infrastruktur der Spitäler, die nicht nur den Patienten in der Sonderklasse zugutekommt. Und – wie Spitalsärzteobmann Harald Mayer betont: „Gäbe es die Sonderhonorare nicht, würden viele Ärztinnen und Ärzte in öffentlichen Spitälern in Privatspitäler abwandern. Ihre medizinische Expertise würde somit der Allgemeinheit nicht mehr zur Verfügung stehen.“

Befund: Systemfehler

Alles paletti ist es in unserem Gesundheitssystem schon lange nicht mehr. Tatsache ist, dass wir in Österreich zwar viel Geld für Gesundheit ausgeben, der Output aber besser sein könnte: Was die Lebenserwartung betrifft, liegt Österreich nur im EU-Mittelfeld – bei den Gesundheitsausgaben sind wir hingegen an dritter Stelle. 
Trotz hoher Ärztedichte fehlen Fachärzt*innen und Allgemeinmediziner*innen – insbesondere für Ordinationen mit Kassenvertrag. Deshalb weichen viele Patienten dorthin aus, wo die Behandlung am teuersten ist: in die Spitäler. Eine abgestufte Versorgung – von der Primärversorgung über die Facharzt-Ordination in die Spitäler – wäre nicht nur wichtig, um Kosten zu senken und Ressourcen besser zu planen. Auch für Patienten wäre es besser, wenn sie wüssten, wohin sie sich wenden sollen.

Therapie: Breite Reform

Die Lösung liegt in einer besseren Steuerung des Systems: Denn zu viele Akteure spielen in der Gestaltung mit und vertreten dort ihre Interessen, zu komplex ist auch die Finanzierung, die durch die Trennung des ambulanten vom stationären Bereich eine ökonomische und sinnvolle Planung unmöglich macht. Johannes Rauch ist nicht der erste Gesundheitsminister, der diese Mängel sieht. Er hat sich vorgenommen, bis Herbst alle an einen Tisch zu holen, um eine breite Gesundheitsreform zu starten. Die Wahrscheinlichkeit, zu scheitern, sei hoch, meinte er am 17. Jänner im ORF-Report. Dennoch: „Wir brauchen den gemeinsamen Willen zu Reformen, denn sonst geht sich das nicht mehr aus!“ 
Die gute Nachricht: Allen Warnungen und Widrigkeiten zum Trotz bemühen sich jene, die im System arbeiten, Mängel auszugleichen und die immer noch gute Versorgung aufrechtzuerhalten. Auch wenn Feuer am Dach ist, bekommen wir derzeit noch, was wir brauchen.

Das sagen Fachleute

„Die Versorgung in unseren Spitälern ist nach wie vor auf internationalem Top-Niveau. Es gibt aber Versorgungslücken, die von jenem Spitalspersonal gestopft werden, das noch da ist und seit Monaten am obersten Limit arbeitet. Wenn die Verantwortlichen weiterhin zulassen, dass offene Dienststellen nicht besetzt und die Rahmenbedingungen fürs Arbeiten im Spital nicht deutlich verbessert werden, kann das nicht mehr lange gut gehen – dann steuert unsere Gesundheitsversorgung auf einen Kollaps zu.“

Harald Mayer Obmann der Spitalsärzte, Österreichische Ärztekammer

„Verbesserungspotenzial im Gesundheitssystem sehe ich bei den Arbeitsbedingungen des Personals. Und es ist wichtig, dass alle, die in der Versorgung arbeiten, gut aufeinander abgestimmt ihren Beitrag leisten: stationär, ambulant und in den Ordinationen. Wir brauchen eine Lenkung der Patientenströme, damit die Patientinnen und Patienten weiterhin gut versorgt werden können.“

Dr. Michaela Wlattnig Leiterin der Patient*innen- und Pflegeombudsschaft Steiermark, Sprecherin der ARGE Patientenanwälte Österreich

„Im Frühling 2022 hat mich mein Augenarzt an das Klinikum Klagenfurt zur Operation meines Grauen Stars überwiesen. Ich hätte auch in ein Privatkrankenhaus gehen können – dort hätte ich allerdings über Nacht bleiben müssen. In Klagenfurt wurden die Eingriffe an beiden Augen tagesklinisch durchgeführt. Auf den ersten Termin wartete ich drei Monate, zwischen den Eingriffen musste ich sechs Wochen warten. Zur Nachsorge war ich dann wieder beim Augenarzt in der Ordination.“

Günter Albrecht (82) Pensionist aus Villach, war Arzt und hat deshalb eine private  Zusatzkrankenversicherung bei der Ärztekammer.

„Viele meiner Patienten könnten sich mich als Wahlärztin nicht leisten – zum Beispiel chronisch Kranke, die dann für jeden Besuch in der Ordination zahlen müssten. Leider habe ich wenig Zeit für meine Patienten – ich sehe meine Aufgabe in der dermatologischen Basis- und Akutversorgung. Akutpatienten erhalten bei mir am selben oder nächsten Tag einen Termin, sie müssen dann halt oft mehrere Stunden Wartezeit in Kauf nehmen. Für Routineuntersuchungen beträgt die Wartezeit derzeit vier Monate.“

Karin Dunst-Huemer Dermatologin, betreibt seit 2015 eine Ordination mit Kassenvertrag in Linz.